Weg vom Oligopol privatwirtschaftlicher Verlage

Dr. Lutz Böhm ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fachgebiet Verfahrenstechnik an der TU Berlin. Gemeinsam mit Michael Gerloff (Max-Planck-Institut für molekulare Genetik) hat er die öffentlichkeitswirksame „Academic Crisis List veröffentlicht, mit der sich beide Wissenschaftler für bessere Arbeitsbedingungen in Wissenschaft und Forschung engagieren. Über eines der Listen-Kernthemen, das derzeitige wissenschaftliche Publikationssystem, haben wir uns mit Lutz Böhm detaillierter unterhalten.

UB:  Unter Punkt 5 der „Academic Crisis List“ beschreiben Sie die gegenwärtige Situation des wissenschaftlichen Publizierens als Publikationskrise. Was sind nach Ihrer Meinung hier die Hauptprobleme?

LB: Der größte Teil der Forschung wird aus öffentlichen Mitteln gefördert. Trotzdem landen sehr viele dieser Ergebnisse „hinter verschlossenen Türen“ in den renommierten, privatwirtschaftlichen Verlagen. Es ist faktisch ein Oligopol und die Verlage nutzen diese Macht in den Verhandlungen mit den Bibliotheken aus. Es gibt eine ganze Menge Aspekte, die beim Thema des wissenschaftlichen Publikationswesens eine Rollen spielen. Ich versuche dies hier in kurzen Stichpunkten darzustellen:

  • die Marktmacht privatwirtschaftlicher Verlage, die z.T. durch scheiternde Verhandlungen mit den Bibliotheken den Zugang zu Forschungsergebnissen verhindern
  • privatwirtschaftliche Verlage, die inzwischen durch das ausgedehnte Sammeln von Nutzerdaten negativ auffallen
  • kostenlose Open Access-Publikationen, welche innerhalb großer Verlage durch Querfinanzierungen ermöglicht werden, wodurch praktisch durch Preisdumping die Konkurrenz ausgestochen werden soll
  • Open Access-Publikationen mit Article Processing Charges, die so hoch sind, dass sie die Publikation der Arbeit von Wissenschaftler*innen aus dem globalen Süden faktisch ausschließen
  • Open Access-Verlage, die durch fragwürdige, fast mit Drückerkolonnen vergleichbare Methoden auffallen und auch z.B. das Prinzip des Special Issues ad absurdum treiben
  • das durch ewige Quantifizierung vorangetriebene Mantra „publish or perish“ unter Wissenschaftler*innen
  • das durch dieses Mantra angefeuerte Aufkeimen von unseriösen „predatory publishers“
  • entgegen „guter wissenschaftlicher Praxis“ fragwürdige Co-Autorschaften, um die Anzahl der eigenen Publikationen künstlich in die Höhe zu treiben
  • (Gast-)Editorenschaften für ein Journal, welche als Tätigkeit neben der eigentlichen Arbeit als Wissenschaftler*in häufig auch am Abend oder Wochenende gemacht werden, natürlich kostenlos, weil es gut auf dem Lebenslauf aussieht
  • der Reviewprozess, den Wissenschaftler*innen kostenlos für die kommerziellen Verlage durchführen und erst damit für die Qualitätskontrolle des vom Verlag zu verkaufenden „Produkts“ sorgen
  • der Reviewprozess, der nicht selten daran zweifeln lässt, ob die Reviewer*innen sich tatsächlich die Zeit dafür genommen oder es tatsächlich verstanden haben
  • der Reviewprozess, der nachweislich durch das Renommee der Autor*innen beeinflusst wird.

Neben zahlreichen weiteren Aspekte aus dieser sicherlich unvollständigen Aufzählung liefert insbesondere der Punkt „publish or perish“ viele unschöne Verknüpfungspunkte zum Thema „Drittmittel“ und „wissenschaftliche Karrierechancen“. Das Thema ist in sich, aber auch durch die enge Verwebung mit vielen anderen Punkten auf der erwähnten Academic Crisis List sehr kompliziert und hier nicht in aller Ausführlichkeit behandelbar.

UB: Eng mit dem Thema des wissenschaftlichen Publizierens verbunden ist die Frage der Forschungsbewertung. Aktuell sprechen sich immer mehr wissenschaftliche Einrichtungen für eine Reform der Forschungsbewertung aus. Wie bewerten Sie diese Entwicklung? Was ist Ihrer Meinung nach erforderlich, damit eine solche Reform tatsächlich Realität wird?

LB: Das ist wirklich knifflig. Wer schon mal in einer Berufungskommission für die Besetzung einer Professur saß, weiß, dass am Ende ein Gutachten erstellt wird. Dieses Gutachten soll möglichst nicht angreifbar sein und am wenigsten angreifbar sind am Ende nüchterne Zahlen: Anzahl der Publikationen, eingeworbene Drittmittel, solche Dinge. Das kann man vielleicht noch durch das Einbeziehen des „akademischen Alters“ relativ zueinander vergleichen. Schwierig wird es, wenn zum Beispiel (Teil-)Elternzeiten im Lebenslauf vorkommen, wie das insbesondere bei Frauen im Alter der Berufungsfähigkeit für eine Professur statistisch häufiger bzw. länger der Fall ist. Es gibt Ansätze, die einen anderen Weg gehen, wie z.B. die Declaration on Research Assessment (DORA) zeigt. Der Versuch, sich zumindest bis zu einem gewissen Grad von Quantität zu lösen und individueller Qualität mehr Raum zu geben, ist löblich, muss jedoch von den unterstützenden Institutionen auch mit Leben gefüllt werden. Ich gebe zu: Das ist in der praktischen Umsetzung nicht einfach und auch sehr viel aufwendiger als die Zahlen zu sammeln, aber ich denke, es lohnt sich, diesen Aufwand in Kauf zu nehmen.

UB: Ein Ansatz zur Lösung der Publikationskrise ist Fair Open Access, also der Aufbau und die Unterstützung wissenschaftseigener, nicht profitorientierter Infrastrukturen für das wissenschaftliche Publizieren. Was halten Sie von dem Ansatz und wo sehen sie Chancen und Herausforderungen?

LB: Ich finde, das sollte das anzustrebende Ziel sein. Ich, als Person, die im öffentlichen Dienst angestellt ist und von öffentlichen Mitteln bezahlt wird, würde mein Wissen für den Reviewprozess sehr viel lieber bei einem solchen, nicht-kommerziellen Verlag bereit stellen.
Ich denke, man muss an dieser Stelle nur auf mindestens zwei Dinge aufpassen:

Erstens sollte die Verlagslandschaft nicht unnötig noch kleinteiliger werden. Klar, am Ende zählt, dass man die Artikel auf den bekannten Plattformen findet und sie somit auch referenziert werden können. Trotzdem sollten gemeinsame Ansätze wie bei der Berlin University Alliance (BUA) oder durchaus auch noch größere, deutschlandweite Zusammenschlüsse wie die TU9 als Basis für solche Verlagsgründungen dienen. Mein Wunsch wäre sogar, dies auf Basis der Hochschulen und außeruniversitären Forschungseinrichtungen innerhalb der EU zu machen – praktisch die Gründung eines europäischen, mit öffentlichen Mitteln finanzierten Hochschulverlags. Man könnte sich an dieser Stelle, ehrlich gesagt, auch vom Prinzip des „Journals“ verabschieden, und dem eigenen Artikel einfach 1 bis 3 Fachrichtungen zuordnen, in meinem Fall z.B. Chemical Engineering und Process Engineering. Damit, in Kombination mit spezielleren key words, wird er von der eigenen Peer Community gefunden und ist öffentlich zugänglich. Ganz nebenbei wären wir auch den unsäglichen Impact Factor damit los. Ich bin nicht der erste und nicht der einzige, der Überlegungen in diese Richtung anstellt. Es gibt Menschen, die sich viel mehr damit beschäftigen, wie man das Publikationswesen zum Besseren ändern kann. Manches, das ich hier schreibe, klingt zugegebenermaßen utopisch. Manchmal ist es aber gut, ein Idealbild als Orientierungshilfe zu haben, um auch die kleinen Schritte zwischendurch in die richtige Richtung zu machen.

Zweitens muss ich hier auf den Aspekt eingehen, dass diese neuen Verlage nicht nur mit einer Infrastruktur für die Neugründung eines Journals und der Möglichkeit, dann dort Artikel einzureichen, ausgestattet werden, sondern es muss auch Geld in unterstützendes Personal gesteckt werden. Die eigentliche Gründung des Journals und alles, was damit in der Gründungs- und Etablierungsphase einhergeht, können kein „Nebenbei-Job“ für Wissenschaftler*innen sein. Es gab sie in der Vergangenheit und es wird auch in Zukunft Menschen geben, die mit viel Herzblut so ein Projekt angehen. Wir sollten dabei aber nicht vergessen, dass rein statistisch Wissenschaftler*innen an Hochschulen schon jetzt eine nicht zu vernachlässigende Anzahl von Überstunden machen. Es ist bei allem Enthusiasmus dafür manchmal einfach zu viel verlangt, dann auch noch „mal eben“ ein neues Journal zu gründen und in der Peer Community zu etablieren.

UB: Wie schätzen Sie die Rolle der Universitätsbibliothek im Zusammenhang mit der Publikationskrise ein und welche Unterstützung würden Sie sich von der Universitätsbibliothek wünschen?

LB: Ich würde die Universitätsbibliothek überhaupt nicht in einem Atemzug mit der Publikationskrise nennen. Mein Eindruck ist, dass die Bibliothek sehr viele unterstützende Angebote für die Wissenschaftler*innen anbietet. Dem gerecht zu werden, wo die Publikationskulturen zwischen den verschieden Fächern so unterschiedlich sind, stelle ich mir nicht leicht vor. Ich persönlich hätte natürlich gerne Zugang zu allen wichtigen Publikationen aus meinem Bereich. Ich unterstütze aber auch den Standpunkt, dass dies nicht zu jedem Preis geschehen darf und akzeptiere daher, dass ich zu sehr viel, aber nicht allem Zugang habe.

Mein Eindruck ist komischerweise manchmal, dass viele Wissenschaftler*innen gar nicht wissen, was die Mitarbeiter*innen in der Bibliothek alles machen. Viele denken vielleicht nur an das Bücherausleihen, aber dieses Gespräch zeigt ja schon auf, womit Sie sich so alles beschäftigen. Vielleicht sollte es eine Art allgemeines Onboarding für neue Mitarbeiter*innen geben, das den Menschen klar macht, was die verschiedenen, zentralen Servicebereiche der Universität alles für sie machen können. Mein Eindruck ist, hier liegt viel Potential im Konstrukt „Universität“, das nicht oder zu wenig genutzt wird.

UB: Herzlichen Dank für das Interview!

Das Gespräch führten Britta Steinke und Dagmar Schobert.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.